Montag, 3. September 2007

Prophetie und Hermeneutik

Warum nur kommen verschiedene Ausleger der Bibel in Bezug auf Fragen der Prophetie auf solch gegensätzliche Ergebnisse?

Weil in manchen Fällen das grundlegende hermeneutische Prinzip "die Schrift mit der Schrift auslegen" nicht oder ungenügend beachtet wird.

Einer der Hauptfehler der Hermeneutik der Dispensationalisten zum Beispiel ist, dass sie grundsätzlich ihre buchstäbliche Auslegung des Alten Testaments dem Neuen Testament überstülpen, anstatt dass sie bei den Aposteln in die Schule gehen und verstehen, wie diese die Verheissungen des AT verstanden haben.

Eine Stelle aus dem Buch Amos kann sehr gut als Beispiel dafür dienen, wie diese apostolische Hermeneutik bezüglich der Wiederherstellung Israels "funktioniert".

Amos 9:11-12 An jenem Tag richte ich die verfallene Hütte Davids auf, ihre Risse vermauere ich, und ihre Trümmer richte ich auf, und ich baue sie wie in den Tagen der Vorzeit, damit sie den Überrest Edoms und all die Nationen in Besitz nehmen, über denen mein Name ausgerufen war, spricht der HERR, der dies tut.

Wenn man diese Stelle für sich isoliert betrachtet, wie das eben oft in unachtsamer Weise geschieht, dann könnte man leicht schlussfolgern, dass der Prophet hier von einer Wiederherstellung Israels als Nation (im politischen Sinn) spricht, die die Edomiter und Heiden in der Weise in Besitz nimmt, dass sie sie politisch, resp. kämpferisch besiegt.

So würde die Stelle gut in die Vorstellung hinein passen, dass es einmal noch einen Kampf gegen die Heiden gibt, die sich gegen (das ethnisch-nationale) Israel stellen, in welchem Israel dann siegen wird. Das ist ja seit dem Ausspruch dieser Prophetie in der Weise nicht geschehen.

Nehmen wir nun aber die Auslegung der Apostel – genau gesagt, des Jakobus – zu dieser Prophetie hinzu, dann erhalten wir plötzlich ein ganz anderes Verständnis.

Die Apostel sind auf dem berühmten ersten Konzil in Jerusalem versammelt und beraten, inwiefern den Heiden etwas von dem Gesetz aufzulegen ist, nachdem von Seiten einiger Judaisten verlangt wurde, die Heiden, die zum Glauben an Christus gekommen sind, sollten noch Teile des Zeremonialgesetzes, insbesondere die Beschneidung, einhalten.

Petrus gibt Zeugnis, wie er erlebt hat, dass Gott den Heiden um den Hauptmann Kornelius, die Petrus besuchte, den Heiligen Geist gegeben hat und somit demonstrierte, dass Er sie in sein Volk aufnimmt.
Darauf antwortet Jakobus:

Apg 15:13-17 Ihr Brüder, hört mich! Simon hat erzählt, wie Gott zuerst darauf gesehen hat, aus den Nationen ein Volk zu nehmen für seinen Namen. Und hiermit stimmen die Worte der Propheten überein, wie geschrieben steht: «Nach diesem will ich zurückkehren und wieder aufbauen die Hütte Davids, die verfallen ist, und ihre Trümmer will ich wieder bauen und sie wieder aufrichten; damit die übrigen der Menschen den Herrn suchen und alle Nationen, über die mein Name angerufen ist, spricht der Herr, der dieses tut»

Jakobus zitiert die Amos-Stelle und erklärt eindeutig und unmissverständlich, dass sich die Prophetie erfüllt – also die Hütte Davids wieder aufgebaut wird (was der Wiederherstellung Israels entspricht), indem die Heiden dazu gewonnen werden.

Die Wiederherstellung Israels ist geschehen, indem der Heilige Geist ausgegossen wurde, die grosse Menge an Juden (d.i. der "Überrest") zum Glauben kam und durch den Dienst der Apostel (die Juden waren) alle Nationen durch Christus zu Gott kommen.

Wenn wir die AT-Prophetie bezüglich der Zukunft Israels in der gleichen Weise, wie das hier exemplarisch gezeigt wird – und in anderen Fällen von den Aposteln ebenso praktiziert wird – verstehen und auslegen, dann erkennen wir, dass das AT keine Wiederherstellung des national-ethnischen Israel lehrt, sondern lediglich den Bau des Reiches Christi meint (welches aus Juden und Heiden besteht, die Christus als Gottes Sohn anerkennen).