Die Unterscheidung
Ein hervorragendes Merkmal und eine Stärke der Charakterisierung der Kirche im Westminster Bekenntnis ist die Unterscheidung der unsichtbaren und der sichtbaren Kirche.
In den älteren reformierten Bekenntnissen wie dem Niederländischen Bekenntnis, dem Zweiten Helvetischen Bekenntnis oder auch dem Heidelberger Katechismus wird diese Unterscheidung noch nicht so explizit gemacht. Man findet lediglich Hinweise, die erkennen lassen, dass im Ansatz schon zwischen den beiden Formen unterschieden wurde, jedoch nicht in dieser deutlichen und systematischen Weise wie im Westminster Bekenntnis.
Die Stärke der Unterscheidung ist, dass sie hilft, eine nüchterne und realistische Sicht der Kirche zu bekommen. Realistisch in dem Sinn, dass dadurch anerkannt wird, dass nicht alle in den irdischen Versammlungen derer, die Christus als ihren Erlöser und ihr Haupt bekennen, auch wirklich wiedergeboren sind.
Die Unterscheidung zwischen sichtbar und unsichtbar hat auch eine theologiegeschichtlich wichtige Bedeutung. Die römische Kirche betont aufgrund ihrer Einbindung der Soteriolgie in die Ekklesiologie die sichtbare Kirche, als die sie sich selber versteht. Das Heil ist in ihrem eigenen Verständnis nur durch die Zugehörigkeit zur römischen Kirche und deren Vermittlung zu erlangen. Aus diesem Grund wird eine Unterscheidung zwischen einer unsichtbaren Kirche, die aus allen wahrhaft Geretteten und einer sichtbaren, die aus allen Bekennenden, nicht aber notwendigerweise allein aus wahrhaft Geretteten besteht, hinfällig.
Wenn wir die Frage stellen, in welcher Weise denn diese Unterscheidung für die heutige Situation der Kirche relevant ist, können wir sagen, dass heute wie damals dieselben Gründe zählen. Die Heilige Schrift, die nicht zeitgebunden ist, lehrt uns, diese Unterscheidung zu machen.
Wir finden im Alten wie im Neuen Testament durchgängig diese Wahrheit, dass es eine bekennende, sichtbare Gemeinde gibt, die aus wahrhaft Glaubenden, Wiedergeborenen besteht, die zusammen mit solchen bekennen, die nur äusserlich dazugehören. Aus diesem Grund werden die Bekennenden immer wieder aufgefordert, ihrem Bekenntnis entsprechend zu leben und zu handeln. Weil wir von der biblischen Lehre der Erwählung (inklusive dem dazugehörigen Verständnis der partikularen Sühne und der Perseveranz der Heiligen) ausgehen, wissen wir, dass diese Aufforderungen nicht dazu dienen, die Wiedergeborenen von der Möglichkeit des Abfalls zu unterrichten und sie davor zu warnen. sondern die Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche geht davon aus, dass es Bekenner in der sichtbaren Versammlung gibt, die entweder noch nicht oder gar nie den rettenden Glauben haben. Wenn sie die sichtbare Kirche verlassen, sich gegen sie richten oder sie gar durch falsche Lehre schädigen, dann kann uns die Erklärung von Johannes (1Joh 2,19) helfen, den Hintergrund ihres Verhaltens zu verstehen.
Das gibt den zuständigen Hirten eine unverkrampfte Haltung gegenüber ihrer Gemeinde. Es hilft ihnen, zu sehen, dass sie nicht die Verantwortung haben, zu erkennen, resp. zu entscheiden, wer tatsächlich zu den Wiedergeborenen gehört. Sie können darin ruhen, dass Gott allein diesen Überblick behält, dass Er die Unterscheidung macht.
Die Hirten ringen zwar um jede Seele, die zu der lokalen Versammlung der sichtbaren Kirche, die ihnen anvertraut ist, gehört. Aber sie haben nicht die Macht und die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass sie auch zur unsichtbaren Kirche gezählt werden kann.
Die Unterscheidung zwischen unsichtbarer und sichtbarer Kirche macht das Westminster Bekenntnis neben einigen Definitionen auch durch die Biblischen Bilder, die es der jeweiligen Form der Kirche zuteilt. Die unsichtbare Kirche nennt es die Braut, den Leib und die Fülle Christi, die sichtbare das Reich Christi, das Haus und die Familie Gottes.
Unsichtbare Kirche
Wenn das Bekenntnis die unsichtbare Kirche als Braut, Leib und Fülle Christi bezeichnet, dann betont es damit jenes Wesen der Kirche, das nicht an Zeit oder Dimension gebunden ist.
Die Kirche, die als Braut am Ende der Zeit von ihrem Bräutigam, von dem Herrn Jesus Christus empfangen wird, ist bis zu diesem Zeitpunkt nicht in der Vollzahl vorhanden. Ebenso ist sie als der Leib Christi, der auch der Tempel des Geistes genannt wird, nicht fertig aufgebaut vor dem Tag des Herrn. Erst wenn die volle Zahl der Erwählten berufen und in Christus eingepflanzt ist, d.h. ihre Fülle vorhanden ist, dann wird die unsichtbare Kirche sichtbar (1Joh 3,2).
Bis zu diesem Tag ist nicht zuverlässig bestimmbar und auch nicht greifbar, wo die Kirche ist und wer vom Herrn zu ihr gezählt wird.
Das heisst, es ist für Menschen nicht greifbar. Das bedeutet jedoch nicht, dass es unsicher ist. Bei Gott ist es vollkommen klar und auch sicher, wer seiner Kirche zugezählt ist. Er hält es aber oft vor den Menschen verborgen. Er sagt jedoch in seinem Wort, dass er seine Kirche bauen wird und dass keine Macht dem widerstehen kann.
Dass die Kirche unsichtbar ist, heisst auch, dass sie nicht materiell fassbar ist und dass sie nicht aus Fleisch und Blut besteht. Der grösste Teil der Kirche Christi ist nicht in materiell fassbarer Form auf dieser Erde anwesend. Die Heiligen, die in der Vergangenheit lebten und die, die erst noch zur Kirche hinzukommen werden, können mit menschlichem Auge nicht erfasst werden.
Sie sind aber nicht weniger präsent. Sie sind – ebenso wie wir als die auf der Erde lebenden Glieder das in einem Sinn schon sind – mit Christus verborgen in Gott. Auch die heute auf der Erde lebenden Glieder der unsichtbaren Kirche sind – obwohl sie als Menschen aus Fleisch und Blut sichtbar sind – als Glieder des Leibes Christi nicht sichtbar. Nichts an ihrem Äusseren, auch nichts, das mit den Sinnen wahrnehmbar ist, gibt Gewähr, dass sie 'in Christus' sind. Nicht einmal sie selbst können ihre Zugehörigkeit an ihrer sinnlichen Wahrnehmung festmachen. Das heisst nicht, dass jemand von sich selbst nicht feststellen kann, ob er zum Leib Christi gehört. Es heisst aber, dass er auf einem anderen als dem sinnlichen Weg diese Erkenntnis gewinnen muss.
Wenn wir sagen, dass die wahren Glieder der Kirche nicht sichtbar, sinnlich nicht fassbar sind, heisst das auch nicht, dass wir nicht danach suchen sollen, Gewissheit über unseren eigenen Stand zu gewinnen. Oder dass man jemandem dabei nicht helfen kann und soll. Im Gegenteil: Wir werden in der Schrift aufgefordert, unseren geistlichen Stand zu prüfen (2Kor 13,5; vgl. 2Pet 1,10). Es wird uns auch gesagt, dass wir durch das innere Zeugnis des Geistes erkennen können, wenn wir geistlich neu geboren sind (Rö 8,16).
Sichtbare Kirche
Der unsichtbaren Kirche stellt das Westminster Bekenntnis die sichtbare Kirche gegenüber und beschreibt sie wieder mit Bildern. Es bezeichnet sie als Reich, Haus und Familie Gottes.
Das (König-)Reich Gottes hat zwar einen unsichtbaren König, aber es selber ist sichtbar. Im Gegensatz zur unsichtbaren Kirche gehen wir hier davon aus, dass die 'Bürger' dieses Reiches nicht unbedingt alle wahre Teilhaber der göttlichen Natur sind, die durch den Geist Gottes geleitet werden, wie das der Apostel beschreibt (Rö 8,14). Sie sind lediglich solche, die sich selber als Bürger des Reiches bezeichnen, indem sie bekennen, zu diesem Reich zu gehören.
So werden sie auf eine äussere Weise vom König regiert, indem sie auf die Verkündigung seines Wortes hören, an der Austeilung der Sakramente teilhaben und sich den berufenen Leitern der Kirche unterordnen.
Ebenso hat ein Haus eine äusserlich sichtbare, hierarchische Struktur. Es gibt den Hausvater, der das Oberhaupt ist und ihm untergeordnet sind die Mitbewohner des Hauses; Familienmitglieder und Dienstpersonal. So wie das Haus in einer sichtbaren Weise funktioniert und jeder Bewohner seinen Platz und seine Aufgabe hat, so ist es auch in der sichtbaren Kirche: Es gibt Örtlichkeiten und Zeitpunkte, wo man sich versammelt, es gibt Funktionen und Aufgaben, die ausgeführt werden; kurz – alles, was in diesem Rahmen geschieht, ist für das Auge sichtbar. In ähnlicher Weise kann das für die Familie gesagt werden. Es ist schwierig, im biblischen Sprachgebrauch zwischen Haus und Familie zu unterscheiden. Die Autoren des Westminster Bekenntnisses wollen, indem sie dies tun, womöglich den Unterschied zwischen dem Funktionalen (Haus) und den familiären Beziehungen (Familie) hervorheben.
Die familiären Verbindungen sind nicht in jedem Fall sichtbar. Die sichtbaren sind die leiblichen Verbindungen. Ehepartner werden ein Fleisch und bringen Kinder hervor, die von ihrem Fleisch und Blut sind. Jedes dieser genannten Glieder gehört zur Familie und das ist mit den Augen zu erkennen. Eine Familie pflegt ihre Beziehungen in sichtbarer Weise. Sie wohnt zusammen und trifft sich regelmässig am selben Ort. Sie leben ihr Leben miteinander. Diese Kriterien machen auch die sichtbare Kirche aus. Sie pflegt Beziehungen und trifft sich regelmässig. Es ist dabei möglich, dass die einzelnen Glieder dieser Familie nur äusserlich verbunden sind. Leibliche Kinder können Kinder ihres Vaters sein, ohne auch 'eines Geistes' mit ihm zu sein. Auch können in einer Familie Menschen mitleben, die nicht wirklich zu der Familie gehören. Von aussen werden sie vielleicht als vollwertige Familienmitglieder wahrgenommen und sind es dennoch nicht, was nur der erkennt, der die ganze Wahrheit weiss. So ähnlich kann es sich verhalten mit Gliedern der sichtbaren Kirche, die nicht wirklich Glieder der unsichtbaren Kirche sind.
Wenn wir –gemäss dem Westminster Bekenntnis – anerkennen, dass die Bibel von der sichtbaren Kirche spricht, wenn sie sie Reich, Haus und Familie Gottes nennt, dann werden wir auch die Kinder der bekennenden Mitglieder als Glieder der sichtbaren Kirche sehen.
Jesus sagte über die Kinder: "ihrer ist das Reich Gottes" (Lk 18,16). Und auch zu einem Haus und zu einer Familie gehören die Kinder mit dazu.
Die Bedeutung dieser Unterscheidung für die Kirche
Der Sachverhalt, dass die sichtbare Kirche nicht nur aus wahrhaft Wiedergeborenen, also Gliedern der unsichtbaren Kirche besteht, erfordert zumindest für die lokale Gemeinde eine bestimmte Vorgehensweise.
Es ist die Aufgabe der Kirche, die Diskrepanz zwischen Bekennern, die nicht wirklich zur unsichtbaren Kirche gehören und wahren Glieder derselben, möglichst klein zu halten. Mit anderen Worten: falsche Bekenner müssen offenbar werden, damit die wahren Gläubigen vor schädlichem Einfluss geschützt werden, damit dem Bekenner geholfen wird, falls er das noch nicht ist, ein wahres Glied der unsichtbaren Kirche zu werden und damit die sichtbare Kirche Gott nicht verunehrt.
Um dies zu erreichen, ist ein klares, biblisches Verständnis von Kirchenmitgliedschaft und eine gesunde Praxis der Kirchenzucht notwendig. Wenn wir zwischen unsichtbarer und sichtbarer Kirche in der oben beschriebenen Weise unterscheiden, gibt uns das eine gesunde und auch entspannte Sicht der Kirchenmitgliedschaft. Wir werden Menschen nicht erst dann als Mitglieder aufnehmen, wenn sie mit absoluter Sicherheit wiedergeborene und im Glaubensleben bewährte Christen sind und wir eine Garantie haben, dass sie auch nie mehr davon abweichen werden. Würden wir diese Voraussetzung fordern, dann könnten wir gar niemanden als Mitglied in eine Gemeinde aufnehmen. Wir werden eine Form haben müssen, die von denjenigen, die aufgenommen werden wollen, ein klares Bekenntnis zu Christus fordert. Wir werden dieses Bekenntnis auch in einem gewissen Mass prüfen müssen, bevor wir sagen: "Du gehörst zur (sichtbaren lokalen Versammlung der) Kirche". Damit werden wir aber nie sagen können und müssen, dass derjenige tatsächlich mit Sicherheit zur unsichtbaren Kirche, dem Leib Christi, also den tatsächlich Geretteten gehört. Wir dürfen das aber aufgrund seines Bekenntnisses annehmen und ihn so behandeln, solange er nicht durch seinen Wandel ein gegenteiliges Zeugnis abgibt.
Die Praxis der Kirchenzucht wird hier eine schützende und korrektive Funktion haben.