Eins von den Büchern, bei denen ich es jammerschade finde, dass sie (noch) nie auf Deutsch übersetzt wurden, ist "The Israel of God" von O. Palmer Robertson.
Während wir darauf warten, hat sich H. W. Deppe (Betanien Verlag) die Mühe gemacht, einen Artikel desselben Autors zu übersetzen, der das Hauptthema des Buches zusammenfasst.
O.P. Robertson schafft es, in dieser kurzen Form, das Thema erstaunlich breit zu behandeln.
(Der einzige Punkt, in dem ich nicht ganz mit ihm übereinstimme, ist die Bedeutung von 'Ganz Israel' in Rö 11,26. Ich denke eher, dass damit nicht christusgläubige Juden und Heiden gemeint sind, sondern nur die christusgläubigen Juden).
Hier ist der Artikel:
Die Zukunft Israels
Von O. Palmer Robertson
Fragen bezüglich der Zukunftslehre (Eschatologie) müssen sich auch mit der Zukunft der Juden befassen. Zu alttestamentlicher Zeit wurden die Juden offensichtlich als erwähltes Volk Gottes identifiziert. Natürlich darf nicht vergessen werden, dass sie nicht einfach dazu erwählt waren, die Segnungen Gottes für sich selbst zu genießen, sondern sie waren erwählt als Diener Gottes, um an alle Völker der Welt Gottes höchste Segnungen weiterzuvermitteln, die nur im Evangelium Jesu Christi zu finden sind.
Die Wiederaufrichtung der jüdischen Nation im Land Israel im 20. Jahrhundert war eine bemerkenswerte Beobachtung. Diese Entwicklung hat viele veranlasst, über die Zukunft der Juden als Volk und als Nation nachzudenken.
Was sagt also die Schrift zur Frage der Zukunft der Juden? Diesbezüglich müssen zwei besondere Fragen betrachtet werden: Erstens, „Wer ist ein Jude?“ und zweitens, „Was ist mit Römer 11?“
Wer ist ein Jude?
Die große Bedeutung dieser Frage ergibt sich aus der alttestamentlichen Verheißung an Abraham und seine Nachkommen. Wer soll alle diese Segnungen erben?
Diese Frage scheint zunächst ganz einfach zu beantworten. Die Segnungen galten den Nachkommen Abrahams. Ein Jude wird definiert als Nachkomme Abrahams, und somit sollen die Segnungen auf die Juden kommen. Die Frage ist jedoch nicht ganz so einfach, wie es zunächst scheint. Auch Ismael war ein Sohn Abrahams. Doch Ismael und seine Nachkommen wurden nicht als Juden angesehen. Esau, Jakobs Zwillingsbruder, war ebenfalls ein Nachkomme Abrahams. Aber Esau und seine Nachkommen, die Edomiter, werden in der Schrift nicht als Juden und Erben des „Segens Abrahams“ betrachtet.
Eine weitere wichtige Frage: War Abraham selbst ein Jude? Die Antwort ist natürlich, dass Abraham ursprünglich ein Heide war, ein Götzenanbeter im Land jenseits des Euphrat, fern vom Gelobten Land. Abrahams Abstammung macht ihn sicherlich nicht zu einem Juden (Jos 24,2).
Erwählung und Glaube
Aber was machte Abram, dem Heiden, zu Abraham, den Vater der Juden? Zwei Dinge: Seine Erwählung und Berufung durch Gott sowie seine Antwort darauf im Glauben. Das machte Abraham, den Heiden, zum Stammvater Israels.
Da Abraham der Volksanghörige Israels war und als Vater der Juden angesehen wird, ist es zweifach wichtig zu beachten, auf welche Weise er ein Jude wurde. Wenn sich dieses Geschehen beim Urvater aller Juden vollzog, kann es sich auch bei anderen Heiden vollziehen. Erwählung und Berufung durch Gott gepaart mit einer glaubenden Reaktion macht aus jedem Heiden einen Juden.
Eine weitere wichtige Beobachtung: Als das Zeichen der Beschneidung, welches die Juden als Gottes Volk kennzeichnete, erstmals eingeführt wurde, wurde es durch Gottes Gebot sowohl bei Ausländern als auch bei Abrahams Kindern angewendet. Sowohl die Nachkommen Abrahams als auch die Fremdlinge in seinem Haus sollten das Zeichen der Beschneidung empfangen, das sie als Juden auswies (vgl. 1Mo 17,12.13). So konnten aus Heiden Juden werden. Daraus folgt, dass ein Jude nicht strikt nach Abstammung definiert werden kann.
Heute wird oft gesagt, ein Jude sei jemand, der eine jüdische Mutter habe. Aber ist jemand mit einem jüdischen Vater kein Jude? Wenn die Mutter definiert, ob jemand Jude ist oder nicht, gilt David dann als Jude? Denn sowohl Rabab, die kananäische Hure, als auch Ruth, die moabitische Witwe, stehen als Mütter in Davids Stammbaum.
Außerdem müssen wir bedenken, dass jeder Heide ein vollgültiger Jude werden konnte, wenn er sich zum Gott Israels bekannte und beschnitten wurde. Dem Gesetz Moses zufolge konnte jeder Fremde, der beschnitten war, das Passahmahl essen und wurde so als Teil des Israels Gottes angesehen (vgl. 2Mo 12,48).
Die Verheißung an Israel
Wer ist dann ein Jude? Wenn es in unserer Frage um „die Zukunft der Juden“ geht, wer definiert dann, wer ein Jude ist? Aus Sicht der Heiligen Schrift kann ein Jude nicht einfach als leiblicher Nachkomme Abrahams identifiziert werden. Stattdessen ist ein Jude ein Mensch, der von Gott zum Heil erwählt und berufen wurde und im Glauben auf diesen Ruf reagiert hat.
Dieses Verständnis von der Natur eines Juden wird im Neuen Testament stark unterstützt. Paulus sagt: „Nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist ... sondern der ist ein Jude, der es innerlich ist, und Beschneidung ist die des Herzens“ (Röm 2,28.29; vgl. Kol 2,11; Phil 3,3). In diesem Vers ist sowohl das Positive als auch das Negative bedeutsam. Der negative Teil zeigt ganz klar, dass nicht alle leiblichen Nachkommen Abrahams als Juden betrachtet werden sollten (vgl. Röm 9,6ff). Gleichzeitig weist der positive Teil darauf hin, dass jeder Heide, der in seinem Herzen beschnitten ist, ein „Jude“ ist. „Wenn ihr aber des Christus seid, so seid ihr damit Abrahams Nachkommenschaft und nach Verheißung Erben“ (Gal 3,29).
Aber wie weit ist dieser Gedanke richtig, dass ein Gläubiger aus den Heiden ein „Jude“ ist? Was ist mit den besonderen Verheißungen für Israel?
Die Schrift ist in dieser Sache klar. Dieser Aspekt von Gottes Heilsplan ist ein „Geheimnis“, das in vergangenen Zeiten verborgen war; und auch heute noch ist es für viele ein Geheimnis. Nichtsdestotrotz steht die Wahrheit klar geschrieben: „das Geheimnis (ist:) … Die Nationen sollen nämlich Miterben und Miteinverleibte sein und Mitteilhaber der Verheißung in Christus Jesus durch das Evangelium“ (Eph 3,4.6).
Das Geheimnis verstehen
Lasst uns das Geheimnis verstehen! Gläubige Heiden sind in Christus „Miterben mit Israel und Mitteilhaber der Verheißung“ (Eph 3,6). Der im Alten Testament verheißene und im Neuen Testament eingesetzte Neue Bund und dessen neue, geistliche Segnungen gelten den Gläubigen aus den Heiden ebenso wie den Gläubigen aus den Juden. Denn in Christus wird nicht mehr wegen Abstammung und Nationalität unterschieden.
Aber was ist mit Römer 11?
Was lehrt nun Römer 11? Wird dort nicht für die Juden eine andere Zukunft gelehrt als für die Heiden? Das ist eine wichtige Frage, die genau definiert werden muss.
Die Frage ist, ob es für Israel eine besondere Zukunft gibt, die sich von dem Heil unterscheidet, das ein Teil der Juden bereits jetzt durch das Evangelium erlangt hat. Dass Gott gegenwärtig Juden rettet, kann wohl kaum in Frage gestellt werden. Aber lehrt Römer 11, dass Gott eines zukünftigen Tages ein besonderes Werk unter den Juden tun wird?
Ein wichtiger Hinweis aus Römer 11, der beweisen soll, dass die Juden eine besondere Zukunft im Plan Gottes haben, wird in der Aussage gesehen, dass sie „eingepfropft“ werden. Sie wurden herausgebrochen, aber sie werden wieder eingepfropft.
Doch es stellt sich die Frage: Wann werden sie wieder eingepfropft? Wann werden Juden, die an Jesus Christus glauben, in die Gemeinschaft der Erretteten eingepflanzt? Nicht irgendwann bei einem kollektiven künftigen Großereignis, sondern wenn sie zum Glauben an den Herrn Jesus kommen. Auch jetzt werden Juden in Christus eingepflanzt. Deshalb bedeutet das in Römer 11 erwähnte Einpfropfen von Juden nicht, dass ihnen eine besondere Zukunft, getrennt von den Heidenchristen, bereitet sei. Vielmehr bedeutet ihr Einpfropfen, dass gläubige Juden exakt genauso behandelt werden wie gläubige Heiden, die ebenfalls eingepfropft werden, wenn sie glauben.
Eingepfropft
Aber was hat es mit dem besonderen Ausdruck auf sich, der besagt: „Und so wird ganz Israel errettet werden“ (Röm 11,26)? Sagt dieser Vers nicht, dass Israel eine Zeitlang verhärtet ist und dann ganz Israel errettet werden wird?
Tatsächlich sagt dieser Vers nicht das, was viele daraus ableiten. Im griechischen Grundtext steht nicht „und dann“ wird ganz Israel errettet, was bedeuten würde, dass eines Tages die Juden kollektiv zu Christus umkehren würden. Vielmehr steht dort „so, auf diese Weise“ wird ganz Israel errettet. Das Heil geschieht für sie in der gleichen wunderbaren Weise, wie Paulus es zuvor im Römerbrief beschrieben hat.
Wir können Paulus’ Gedankengang wie folgt in eigenen Worten formulieren: Jesus kam zuerst zu den Juden. Die Juden verwarfen ihn. Dann sandte Jesus sein Evangelium zu den Heiden. Die Heiden nahmen ihn an. Die Juden sahen das und wurden und werden eifersüchtig. So kommen auch sie zum Glauben an Christus und werden eingepfropft, genauso wie die gläubigen Heiden. Und so hat Gott eine großartige Errettung für Juden wie Heiden geschaffen.
Ganz Israel
Aber was bedeutet der Ausdruck „ganz Israel“? Weist das nicht darauf hin, dass alle Juden errettet werden? Dazu müssen wir mehrere verschiedene mögliche Auslegungen betrachten.
Kann es bedeuten, dass alle Juden aller Zeiten errettet werden? Nein, denn die Schrift lehrt keine zweite Chance nach dem Tod.
Bedeutet es, dass eine große Mehrheit der Juden bei einem künftigen Ereignis errettet wird? Nun, hier steht „ganz Israel“ und nicht „eine Mehrzahl aus Israel“.
Bedeutet es, dass alle Juden, die zu einem bestimmten Zeitpunkt leben, errettet werden? Wenn das so wäre, dann sollten alle Heiden, die keine Christen werden, besser zum Judentum übertreten, damit sie errettet werden. Die Schrift lehrt aber keine kollektive Bekehrung, sondern nur eine persönliche, individuelle Hinwendung von jedem Gläubigen einzeln zum Herrn Jesus durch das verkündete Evangelium. Ein solches Szenario, das notwendig wäre, damit alle zu einem bestimmten Zeitpunkt lebenden Juden auf einem Schlag durch das Evangelium gläubig werden, lässt sich aber beim besten Willen nicht in diesen Vers Römer 11,26 hineinlesen. Manche meinen, dies geschähe, wenn die Juden den Herrn Jesus bei seiner Wiederkunft sehen. Aber das ist dann nicht Glauben, sondern Schauen. Das Heil ist aber nicht durch Schauen, sondern durch Glauben an das Evangelium.
Der Ausdruck „ganz Israel wird errettet werden“ hat wahrscheinlich eine von zwei Bedeutungen: Entweder heißt das, dass alle von Gott erwählten und berufenen Juden errettet werden. Oder es bedeutet, dass alle erwählten und berufenen Menschen, seien es der Abstammung nach Juden oder Heiden, errettet werden. Wie schon Römer 2,28-29 und 9,6ff (und andere Stellen) erklären, bilden sie ja das wahre Israel.
Diese letztgenannte Sicht scheint die beste zu sein, denn Paulus hat gerade zuvor beschrieben, wie gläubige Heiden und Juden Teil des kontinuierlichen wahren Israel werden, indem sie darin eingepfropft werden. Alle Erwählten, Berufenen und Gläubigen zusammen bilden das „Israel Gottes“ (Gal 6,16), die wahre Nachkommenschaft Abrahams (Gal 3,29).
Bei diesem Verständnis soll Gott allen Lobpreis für sein großartiges Heil bekommen. Denn er hat eine große Volksmenge aus jeder Nation errettet, einschließlich aus der Nation der Juden, durch die Gabe seines Sohnes. „Ich habe noch andere Schafe [Heiden], die nicht aus diesem Hof [Israel] sind; auch diese muss ich bringen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte sein (Joh 10,16). Möge unser gemeinsamer Großer Hirte auf ewig gepriesen werden.
Quelle: www.evangelical-times.org
Übersetzt und bearbeitet von Hans-Werner Deppe
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1 Kommentar:
Hallo Kurt,
vielen Dank für diesen Artikel - er ist sehr hilfreich für mich gewesen. Wir haben gerade dieses Thema bei uns im Studium und diese Argumentation stärkt noch einmal meine bisherige Sichtweise.
Gott mit dir,
Michael Wiche
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